Vorwärts in die Vergangenheit: Reenactment und Living History in Carnuntum
Ein Beitrag von Nisa Iduna Kirchengast - Redaktion: Daniel Kunc, Thomas Mauerhofer
Die LEGIO XV APOLLINARIS betritt das Gelände des Römerfests. Die Rüstungen sind alle nach historischem Vorbild handgefertigt.
Mit gezücktem Schwert, erhobenen Schild und glänzender Rüstung tritt der römische Legionär noch einen Schritt vorwärts. Das Eisen an seinem Körper wiegt weit mehr als das ohnehin schon beträchtliche Gewicht. Er atmet schwer, kurz verirren sich seine Gedanken an die Orte seiner Kindheit, doch ein Schrei seines Offiziers holt ihn abrupt zurück. Eine beeindruckende germanische Streitmacht hat sich vor ihm und seinen Mitstreitern aufgebaut.
Was sich so vielleicht vor 2.000 Jahren so zugetragen hat, und nicht ganz zu Unrecht noch immer unsere Fantasie beschäftigt, verarbeitet in zahlreichen Büchern, Filmen und Serien, geschieht so auch diesen September in der Römerstadt Carnuntum. Beim Römerfest verschmelzen Vergangenheit und Gegenwart, und plötzlich finden sich die Besucher mitten in der Antike wieder, umgeben von den Klängen und Geschichten längst vergangener Zeiten.
Trotz aller historischer Akkurarität, ist Reenactment stets auch Unterhaltung. Die deutsche Gruppe „Ewerlingas Alamanni“ mit einem eher drastischen Einblick in Antiken Rechtsvollzug.
Die Römerstadt Carnuntum kombiniert seit 1997 Geschichte mit Unterhaltung. Das Römerfest im September genauso wie die seit diesem Jahr neu entwickelte Zeitreise Carnuntum im August (früher Spätantikenfestival) bieten nicht nur Einblicke in das antike Leben einer Stadt am Rande des römischen Reiches, sondern lassen auch die Personen der damaligen Epochen wieder auferstehen. Beim Römerfest tragen mehr als 300 Reenactor dazu bei, das Leben in der Römerstadt authentisch nachzustellen. Vergleichbare Festivals finden sich auch in weiteren archäologischen Museen in Niederösterreich wie dem Mamuz, ebenso wie in verschiedenen anderen Ländern, wie etwa der Schweiz, Deutschland oder Großbritannien.
Im Mittelpunkt der Festivals stehen „Reenactment“ und „Living History“, zwei Methoden der Geschichtsvermittlung. Reenactment stellt konkrete historische Ereignisse nach, während Living History den generellen Alltag vergangener Zeiten in den Fokus rückt. Beide Ansätze basieren auf wissenschaftlicher Forschung und bieten den Besuchern und BesucherInnen eine hautnahe Erfahrung mit der römischen Geschichte. Die Darstellung ist dabei nicht nur unterhaltsam, sondern auch historisch belegt, was besonders wichtig für die Wissensvermittlung ist.
Bei Living History entspricht jedes Teil der Ausrüstung einem historisch belegten Original. Hier zur Perfektion gebracht durch die Gruppe „Thuringi“.
Public History ist eine Disziplin, die sich zum Ziel gesetzt hat, Geschichte einer breiten Öffentlichkeit zugänglich und erlebbar zu machen. Ein wesentlicher Bestandteil dieser Vermittlungsarbeit sind Reenactment, Living History und Experimentalarchäologie. Gerade der Experimentalarchäologische Ansatz, nach naturwissenschaftlichem Grundprinzip Experimente durchzuführen um die Funktionalität von Werkzeugen, Waffen, Rüstungen oder Strukturen zu untersuchten, dient dazu auch aus den Darstellungen der Gruppen einen wissenschaftlichen Nutzen zu ziehen. Diese „darstellende“ Archäologie umfasst vor allem die Präsentation und Nachstellung archäologischer Funde, wie etwa Kleidung, Schmuck, Werkzeug oder Waffen, und deren Nutzung. Die Grenzen zum Reenactment, also zur erlebnisorientierten Darstellung, sind besonders in der Museumspräsentation zunehmend fließend.
Reenactment und Living History haben den Anspruch durch ihre Tätigkeit Erkenntnisse für die Forschung zu erschließen. Etwa im Bereich des Gladiatorenkampfes konnte so vieles durch die Praxis belegt werden. Im Bild zwei Kämpfer der Familia Gladiatoria Carnuntina, Carnuntums eigener Gladiatorentruppe, im Rahmen des Römerfests.
Die Darstellerinnen und Darsteller investieren oft Monate, manchmal sogar Jahre um ihre Ausrüstung optimal in Einklang mit der aktuellen Forschung zu bringen. Dazu werden Forschungsarbeiten gesichtet, mit originalen Funden verglichen und auch historische Darstellungen, werden als Vergleich herangezogen. Die Bedeutung dieser Vermittlungsformen zeigt sich besonders in Carnuntum, wo die Vergangenheit durch persönliche „Mitmach“-Erlebnisse greifbar wird. Die Verbindung von Wissenschaft und Public History macht Carnuntum zu einem Vorzeigebeispiel für erfolgreiche Kombination zwischen der Kulturvermittlung eines Museums und engagierten Reenactmentgruppen bzw. -vereinen, das seit Jahrzehnten Menschen aller Altersgruppen anzieht. In Österreich und vielen weiteren (europäischen) Ländern gibt es zahlreiche Vereine, die sich auf das römische Leben spezialisiert haben und ihre Rolle nicht nur während der Festivals, sondern oft auch darüber hinaus beibehalten, um ein möglichst authentisches Erlebnis zu bieten.
Reenactment ist auch weit mehr als das Darstellen aktiver Kampfhandlungen. Hier die Gruppe „Project Periphery“ beim Kochen nach antikem Vorbild.
So hatten wir bei der diesjährigen „Zeitreise Carnuntum“ vom kaiserlichen Hofstaat Valentinians I. über germanische Gruppen wie die Alamannen und Thuringi, bis hin zu einfachen Schafhirten eine große Bandbreite verschiedenen (sozialen) Bevölkerungsschichten zu Gast. Auch beim Römerfest werden wieder Gruppen aus ganz Europa nach Carnuntum kommen.
Reenactment, wenngleich oft für die gesamte Szene als Synonym verwendet, ist streng genommen die Darstellung eines konkreten Ereignisses. Hier zu sehen Gezá Frank in seiner Paraderolle als Valentinian I. im Zuge der Audienz, die ihm in Folge das Leben kosten sollte.
Die beiden Feste sind Beispiele, wie die Römerstadt Carnuntum durch Veranstaltungen, die auf wissenschaftlicher Recherche basieren, Geschichte lebendig werden lässt. Hier können die Besucher und Besucherinnen nicht nur zusehen, sondern auch aktiv teilnehmen, sei es durch das Erlernen römischer Handwerkskunst oder das Erleben historischer Schlachten. Carnuntum hat es geschafft, Wissenschaft und Geschichtsdarstellung zu einer einzigartigen Erlebniswelt zu verbinden das weit über das hinausgeht, was man in einem traditionellen Museum erwarten würde. Gerade deshalb bleibt es ein lebendiger Ort des Lernens und des Erlebens, an dem Vergangenheit und Gegenwart miteinander verschmelzen.
Wenn man sich tiefergehend mit der Materie beschäftigt, wird schnell klar, das Living History oft viel mehr feingeistige Kunst ist, als reines Kämpfen, zu sehen an diesem beeindruckenden Meisterwerk.
Weiterführende Literatur:
M. Großmann, Geschichte erleben. Living History, Reenactment und Experimentalarchäologie im Praxistest, in: M. Grossmann – T. Hellmuth – M. Tschiggerl – T. Walach (Hrsg.), Go Public! Zugänge zur Public History (Wiesbaden 2024) 115–125.