Viae vitae: Straßen in der Zivilstadt von Carnuntum

Ein Beitrag von Nisa Iduna Kirchengast - Redaktion: Daniel Kunc, Thomas Mauerhofer

Moderne Einkaufsstraßen sind heute nicht nur Handelsplätze, sondern auch soziale Zentren des urbanen Lebens – ein Konzept, das bereits vor über 2000 Jahren in den Straßen des Römischen Reiches verwirklicht wurde. Dort dienten die Hauptverkehrsadern nicht nur dem Handel, sondern prägten das soziale und kulturelle Leben der Städte. Wie überfüllt die Straßen und Gassen einer römischen Stadt sein konnten, berichtet etwa Juvenal (3.232–238):

ferit hie cubito, ferit assere duro alter, at hie tignum capiti incutit, ille metretam. pinguia crura luto, planta mox undique magna calcor et in digito clavus mihi militis haeret. [...]

“der eine stößt mich mit dem Ellenbogen, mit hartem Holm stößt ein zweiter, dieser dagegen schlägt mir an den Kopf mit einem Balken, jener mit einem Fass. Dick bedeckt mit Schmutz sind die Beine, von überall werde ich darauf mit großen Sohlen getreten, und auf der Zehe bleibt der Nagelschuh eines Soldaten hängen. [...]”

© RSC

Das Römische Stadtviertel aus der Vogelperspektive mit der Nordstraße im Vordergrund, der Südstraße im Hintergrund und der Weststraße rechts der Therme. - © Römerstadt Carnuntum (Foto: T. Mauerhofer)

Ein anschauliches Beispiel bietet die Zivilstadt von Carnuntum, deren Straßenstruktur sowohl durch Hauptverkehrswege als auch Nebenstraßen geprägt war. Die Limesstraße verlief von Westen kommend zwischen der Forumstherme („Palastruine“) und dem Forum nach Osten, in Richtung Legionslager. Dabei querte sie südlich des heutigen Schlosses Petronell auch das Areal, das wir nun als rekonstruiertes Stadtviertel der Römerstadt kennen. Der Decumanus Maximus (Ost-West-verlaufende Hauptstraße bzw. -achse) wurde durch den Cardo Maximus (Ost-West-verlaufende Hauptstraße) ergänzt, der östlich der Forumstherme nach Süden führte und beim  heutigen Bruck an der Leitha in die „Bernsteinstraße“ mündete. Neben diesen Hauptstraßen existierten weitere Verkehrswege, heute der Einfachheit als „Nord-“, „Süd-“ oder „Weststraße“ bezeichnet. 

Die heutige “Südstraße” im Römischen Stadtviertel (leicht zu merken: Die Donau liegt im Norden Carnuntums, die Südstraße ist also jene Straße, die am weitesten von der Donau entfernt ist) erstreckt sich über 120 Meter. An ihr liegen beispielsweise das Haus des Lucius und das Haus des Ölhändlers auf einer erhöhten Terrasse. Das verlegte Kalksteinpflaster wurde durch Steinraub beschädigt. Die ehemaligen Bausteine finden sich deswegen seit dem Mittelalter etwa in der Hainburger Stadtmauer, oder auch im Wiener Stephansdom. 

Randsteine markierten die Gehsteigränder, und eine 3 Meter hohe Terrassenmauer stützte die Straße ab. Fünf Bauphasen sind belegt, wobei im 3. Jahrhundert erstmals eine Steinpflasterung eingesetzt wurde. Die Nordstraße ist mit 7,5 Metern die breiteste Straße im Römerstadtviertel. Auf der freigelegten Länge sind Spuren von Wagenverkehr sichtbar. Sie war von Portiken (“Säulengängen”) gesäumt, die heute wieder zu bewundern sind. Unter der Nordstraße verlief ein gemauerter Hauptkanal, der die Entwässerung der Stadt regelte.

© Atelier Olschinsky

Ein aktuelles Foto der Südstraße, gut erkennbar die Folgen des Steinraubs. - © Römerstadt Carnuntum (Photo: T. Mauerhofer)

Unter dem Pflaster Carnuntums: Das Projekt „Weststraße“

In den letzten Jahrzehnten fanden zahlreiche Untersuchungen zu Straßen und Kanalisation in der Zivilstadt von Carnuntum statt. Im Rahmen des Projekts „Weststraße“ wurden nach Untersuchungen an der Nordstraße (1989-2002) und Südstraße (1999-2004) in der Zivilstadt von Carnuntum auch an eben jener Weststraße, welche entlang der Therme verläuft, archäologische Ausgrabungen durchgeführt. 

Die jüngsten Grabungen begannen mit einer interdisziplinären Auswertung unter Einbeziehung mehrerer archäologischer und naturwissenschaftlicher Fächer. Die Ausgrabungen von 2002 bis 2003 an der Weststraße deckten einen mehrphasigen Straßenaufbau mit ausgeklügelter wasserbaulicher Infrastruktur auf. Die erste Schotterstraße entstand gegen Ende des 1. bzw. zu Beginn des 2. Jahrhunderts. Wenige Jahrzehnte später wurde bereits eine neue Schotterstraße mit Frisch- und Abwassersystem angelegt, bevor Ende des 2. Jahrhunderts die Straße erheblich aus- und umgebaut wurde, wobei auch ein neues Abwassersystem entstand. Die Kanalisation wurde dann in den letzten Jahrzehnten des 3. Jahrhunderts stillgelegt.

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Die Grabungen entlang der Weststraße 2003. Am linken Bildrand sind die Grundmauern der heute wiedererrichteten Therme zu sehen. - © G.K. Kunst

Die Analysen des Kanalsystems liefern wertvolle Einblicke in das Konsum- und Entsorgungsverhalten der Bewohner. Funde wie Spulwurmeier, Urinsteinablagerungen, Tierknochen und Pflanzenreste mögen vielleicht nicht das sein, was man sich im Allgemeinen als archäologischen Schatz vorstellt. Durch moderne Methoden können aus diesen aber enorme Rückschlüsse auf die damalige Ernährung, Gesundheitssituation, Hygienestandards und vieles mehr gewonnen werden, Archäologie ist heute oft schon mehr als ein glänzendes Gefäß. 

Antike Autoren beschrieben die Müllentsorgung in Großstädten auch so, dass Kanäle oft zur Müllentsorgung dienten. Und die Schichten im Kanal der Weststraße belegen, dass dieser als Müllsenke diente. Die Untersuchungen verdeutlichen, wie essenziell die Kanalisation für die Infrastruktur großer römischer Städte war und wie sie zum hohen Lebensstandard der Stadtbewohner beitrug. Die Funde in Carnuntum zeigen, dass die Straßen und ihre unterirdischen Kanäle nicht nur Verkehrswege, sondern auch ein Spiegel des städtischen Lebens waren.

© RSC

Die Weststrasse, entlang der Therme, wie sie heute zu besichtigen ist.  - © Römerstadt Carnuntum (Photo: T. Mauerhofer)

Literatur:

G. K. Kunst – S. Radbauer, Interdisziplinäre Forschungen in der Zivilstadt von Carnuntum. Grabungs- und Aufarbeitungsprojekt Weststraße, in: M. Meyer – V. Gassner (Hrsg.), Standortbestimmung. Akten des 12. Österreichischen Archäologentages, Wiener Forschungen zur Archäologie 13 (Wien 2010) 281–295.

© Atelier Olschinsky
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